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Das Testament
Es war ein kalter Winter dieses Jahr. Es passte perfekt zu meinem Befinden. Ich rollte mich in meinem Bett zusammen und kniff ganz fest meine Augen zusammen.
Sag mir, dass das alles nicht passiert ist…
Eine Hand strich mir über das Haar.
„Kleine…“
„Ich bin nicht deine Kleine, lass mich in Ruhe.“ Meine Stimme klang brüchig.
Ich sprang aus meinem Bett und lief ins Badezimmer.
Mein Stiefvater dachte, dies alles sei nur wegen meiner Mutter, aber mein ganzes Leben ist es, was mich so fertig machte.
Ich setzte mich auf den Boden des Zimmers und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
Jemand klopfte an die Tür.
„Ms. Glen… Sie müssen sich fertig machen.“
Es war mein Kindermädchen. Sie versuchte mich immer wieder abzulenken, doch es war vergebens.
Ich stand vorsichtig auf und ging langsam zur Tür. Als ich sie aufmachte lächelte Madame Finn mich leicht an. Sie drückte mir etwas zum Anziehen entgegen.
„June…“ Chace, mein Stiefvater, trat in mein Zimmer ein.
Ich drehte mich demonstrativ um und verschwand wieder im Badezimmer.
Sein Mitleid konnte er sich sparen. Madame Finn sagte immer, ihm fälle es genauso schwer, doch ich schenkte dem keinen Glauben. Er und meine Mutter hatten sich erst ein paar Monate gekannt und schon wurde er mein neuer Vater.
Durch ihn wurde alles nur schlimmer. Er war ein Heuchler. Nein, er ist noch immer ein Heuchler.
Er konnte ihn einfach nicht ersetzen. Der echte Vater ist nicht ersetzbar.
Ich sank wieder zu Boden.
Die Trauer seines Todes hatte ich noch immer nicht überwunden.
Es kam mir wie gestern vor, dass er aus dem Haus ging um in die Arbeit zu fahren.
Damals wollten meine Mutter und ich ihn überraschen und mit ihm in seiner Mittagspause Essen gehen. Doch als wir in seinem Büro ankamen sahen uns alle nur betroffen an. Er starb bei einem Unfall. Er wollte uns von zu Hause abholen um uns auszuführen.
Das Badezimmer verschwamm vor meinen Augen. Die Tränen rollten mir über die Wangen und schienen kein Ende zu nehmen.
Madame Finn klopfte wieder an die Tür.
„June? Soll ich dir helfen?“
Ich brachte nur ein krächzendes Nein hervor und mit all meiner Kraft stand ich wieder auf und stellte mir vor das Waschbecken. Meine Augen waren verschwollen von dem vielen Weinen und ich seufzte.
Ich musste mich irgendwie ablenken. Sonst würde ich den heutigen Tag nicht mehr überstehen, das wusste ich.
Langsam begann ich mich fertig zu machen. Ich beschäftigte meinen Kopf mit einem Ablauf.
Erstens, Gesicht waschen. Zweitens, Haare waschen und föhnen.
Es klappte für kurze Zeit, doch sobald ich fertig vor dem Spiegel stand, kamen wieder die Erinnerungen in meinen Kopf.
Ich konzentrierte mich auf andere Sachen, doch es klappte nicht.
„Madame Finn?“ krächzte ich.
Sie spähte herein und seufzte.
„June… Denke an etwas anderes. So machst du dir dein Leben nur noch schwerer.“ Sie versuchte mich aufzuheitern.
„Komm, Kleines. Ich geh mit dir jetzt raus.“
Sie legte einen Arm stützend um mich. Auf dem Weg nach unten versuchte sie mich mit allen Mitteln abzulenken.
„Hast du denn schon mit diesem Jungen geredet? Du hast ja vor ein paar Tagen nur von ihm geredet… Wie hieß er schnell? Randy, Andy… Stanley?“
„Riley…“
„Genau… Und?“
Ich schüttelte nur den Kopf. Leicht lächelte ich. Madame Finn war die einzige Person in meinem Leben, die es manchmal schaffte mich wenigsten ein bisschen aufzuheitern.
„Sie sind viel zu gut für mich, Madame.“
Als wir in der Auffahrt standen, umarmte sie mich.
Die Limousine stand schon dort und Chace war schon eingestiegen.
Madame Finn übergab mir ein kleines Täschchen.
„Taschentücher, ein Spiegel und Notfalltücher falls deine Schminke verläuft.“ Sie lächelte mich an und ihr Lächeln wurde breiter als sie sah, dass auch ein Lächeln über mein Gesicht huschte.
Sie legte mir noch aufmunternd die Hand auf die Schulter und nickte dann in Richtung Auto. Ich schlenderte traurig die Auffahrt zum Fahrzeug entlang.
Ich stieg ins Auto und setzte mich hin.
„June… Du kannst jederzeit mit mir reden…“
Ich sah Chace mit einem missbilligen Blick an. Es war meine Art mich einzukapseln. Ich wollte nicht reden. Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden.
Der Chauffeur fuhr langsam Richtung Friedhof.
Ich sah aus dem Fenster und ganz langsam kamen mir die Tränen. Das Wetter war trüb und neblig. Alles passte zu dem Geschehen. Meine Hände zitterten, deswegen presste ich sie gegen mich, damit Chace sie nicht sah.
Als der Wagen stehen blieb wurde mir die Tür geöffnet. Die halbe Stadt war am Grab versammelt und als sie mich sahen wichen sie alle meinem Blick aus. Sie machten einen Weg frei und teilnahmslos ging ich hindurch.
Keiner sollte mich bemitleiden. Keiner sollte sich Sorgen um mich machen.
Ich stellte mich neben das Grab und blickte den Grabstein an.
Sophie Glenn
geborene Miller
1972 - 2010
wunderbare Frau
und
liebende Mutter
Mich übermannten die Tränen.
Ich bekam die weiteren Minuten nur schemenhaft mit bis mich Chace ansprach.
„Willst du etwas sagen?“ flüsterte er mir zu. Ich sah zu ihm auf und sah dieselbe Trauer in seinen Augen.
Könnte es sein, dass er genauso litt wie ich?
Doch das glaubte ich nicht.
Wie könnte er? Er kannte sie nur ein paar Monate…
Ich nickte nur und ging dann nach vorne zum Pfarrer.
„Meine Mutter sagte mir immer, sie würden nur zehn Pferde ins Grab bringen. Die zehn Pferde habe ich wohl verpasst.“
Ich versuchte mein Traurigkeit zu überspielen. Doch mir kamen trotzdem die Tränen.
„Sie sagte auch immer, dass man immer positiv denkend durch das Leben gehen soll. Doch…“
Ich brach ab. Ich konnte nicht mehr weiter reden.
Ich lief einfach davon. Keiner sollte sehen, wie ich jetzt aussah.
Meine Beine führten mich einfach irgendwo hin. Ich wusste nicht wohin. Einfach nur weg.
Zu Madame Finn konnte ich nicht. Sie würde es nicht verstehen. Keiner verstand mich. Keiner hatte so etwas erlebt wie ich.
Nach einiger Zeit stand ich vor einem Café. Ich ging hinein. Dort war es wenigstens warm.
Ich fror, denn das Kleid war einfach nicht für das Wetter geeignet.
Ein kleiner Tisch war frei und ich setzte mich an ihn.
„Was kann ich dir bringen?“ fragte mich gelangweilt die Bedienung.
„Einen Kaffee, bitte…“ Ich starrte aus dem Fenster.
Ich hielt es in dieser Stadt nicht mehr aus. Meine Mutter hatte Recht. Früher oder später kann man einfach nicht mehr.
Sie hatte sich mitten in der Stadt ermordet. Gestorben mit einer Schlagzeile.
Meine Mutter war immer so. Sie war immer die berühmte reiche Frau vom Bürgermeister. Sie hatte es genossen. Bis zum Tod von Dad. Sie wollte nichts mehr machen. Dann traf sie Chace. Für kurze Zeit war sie wieder glücklich, doch dann ohne irgendwelche Anzeichen, wollte sie nur noch sterben und das tat sie auch.
Mir rollten die Tränen über die Wange.
Meine Eltern hatten mich alleine gelassen. Sie haben mich mit dem ganzen Rummel und mit der ganzen Stadt und ihrer Neugier zurück gelassen.
Ich bezahlte den Kaffee und verschwand wieder aus dem Lokal.
Ich ging wieder ein bisschen durch die Stadt. Sie war nicht sehr groß und deswegen führten meine Wege meistens wieder in die Stadtmitte.
Es begann zu regnen, doch ich ging einfach weiter.
Plötzlich hielt ein Wagen neben mir. Es war ein altes gebrauchtes Fahrzeug. Mit so etwas kam ich nie in Kontakt. Ich wuchs in einer reichen Familie auf und wurde auch so behandelt.
Jemand kurbelte das Fenster herunter und voller Erstaunen erkannte ich Chace.
„Steig ein… Wir müssen zum Notar.“
Ich starrte ihn ungläubig an, aber als er mir in die Augen sah, sah ich direkt in sein Herz. Er war genau so traurig wie ich.
Konnte er wirklich so verletzt sein wie ich?
Ich stieg wortlos ein.
Langsam fuhr der Wagen die Straßen entlang, bis zum Notar.
Mein Kopf war wie leer gefegt. Plötzlich kam ich mir wie ein normales Mädchen vor. Eines ohne große Vergangenheit. Es lag an diesem Wagen. Noch nie saß ich in einem Auto, dass nicht alle Blicke auf sich zog.
Wir stiegen aus und jeder in der Nähe sah uns mit großen Augen an.
So eine reiche Familie mit so einer Schrottkiste. Doch in dieser Schrottkiste fühlte ich mich wohler, als sonst irgendwo.
Wir gingen rauf in das Büro des Notars und fanden Madame Finn dort vor. Wir setzten uns vor den Schreibtisch und sahen den Notar an.
„Sie sind da um das Testament von Mrs. Glenn einzusehen. Dafür benötige ich nur das Wort, welches sie verlangt hatte.“
Alle sahen mich an. Ich war die einzige wirkliche Vertrauensperson von ihr.
Ich schluckte einmal und nickte.
„Apfelsinenkompott.“ Ich musste leicht lächeln. Das war meine Mutter. Sie liebte Kompott.
Mir stiegen wieder die Tränen in die Augen, doch ich schluckte sie runter.
„Jawohl…“ Er holte einen kleinen Karton hervor.
„Auf diesem Papier hier steht, was sie wem vererbt. Doch davor hatte sie mich gebeten diesen Brief ihnen Miss Glenn zu geben.“
Er gab mir ein kleines Kuvert.
Ich las was darauf stand.
Es war die Handschrift meiner Mutter.
Liebe June!
Öffne diesen Brief genau nachdem du ihn erhalten hast.
Er ist von mir und deinem echten Vater.
Ich öffnete Vorsichtig den Umschlag und entfaltete das beschriebene Papier.
Unsere geliebte June!
Wenn du dies liest, sind wir leider beide schon von dannen gezogen. Wir haben diesen Brief gemeinsam kurz nach deiner Geburt geschrieben.
Wir können dir schon jetzt sagen, dass dein Leben nicht immer schön sein wird. Besonders jetzt nach unserem Tod, könnte alles sehr schwer werden.
Doch rufe dir immer zurück in den Gedanken. Du kannst dein Leben ändern, denn es ist deines.
Wenn du dies hier liest, ist es noch nicht zu spät. Wir haben die falsche Entscheidung getroffen und uns für ein Leben im Rampenlicht in einer Kleinstadt entschieden. Doch du musst nicht die gleiche Entscheidung wählen. Mach nicht den gleichen Fehler wie wir.
Wähle das, was du willst und nicht was wir, deine Eltern gewählt haben.
Wir haben diesen Brief geschrieben, dass du, wenn wir dich noch in deinen jungen Jahren verlassen, trotzdem unseren Rat kennst. Du musst ihn nicht befolgen, aber nimm ihn zur Kenntnis.
Du wirst ewig unsere Tochter bleibe, die wir auch noch hier im Jenseits lieben werden und über der wir immer wachen werden.
Wir liebe dich von ganzen Herzen und diese Liebe wird nie vergänglich sein.
In Liebe
Deine Eltern
Charles und Sophie
Mir rollten Tränen über die Wange, doch ich wischte sie davon, denn ich wollte nicht, dass sie den Brief zerstören.
Plötzlich fiel noch ein weiterer Brief aus dem Umschlag.
Ich begann zu lesen.
Liebe June!
Diesen Brief schreibe ich nun kurz vor meinem geplanten Selbstmord.
Ich weiß, dass du Chace nie sonderlich mochtest, aber er ist durch und durch ein guter Mann.
Es mag unglaubwürdig klingen, doch ohne Chace wäre ich schon viel früher gegangen.
Meine Trauer über den Tod deines Vaters hatte nie aufgehört und hiermit bezeuge ich dir, dass ich ihn über alles liebte und noch immer liebe.
Ich kann nicht weiter ohne ihn leben und es tut mir leid, dass ich dafür dich verlassen muss.
Ich habe Chace geliebt, doch mein Herz gehörte immer deinem Vater.
Chace ist ein sehr guter Mann und wird dir in allen Situationen beiseite stehen. Versuche wenigstens ihn zu mögen.
June,
lasse deinen Stolz hinter dir und sehe das Leben aus einer neuen Sicht.
Verstecke deine Gefühle nicht, denn nur der, der sie zeigt ist stark.
Siehe dies als einen Neuanfang, du kannst ihn beginnen wo immer du willst. Dich hält nichts mehr an diesem Ort. Überall wo du und dein Herz seid, dort sind auch wir. Wir werden dich niemals verlassen.
Ich kenne dich meine Tochter und weiß, dass du sehr stark bist und nur weil ich das weiß kann ich mich morgen dem Tod stellen.
Ich weiß, dass du auch diese harte Probe in deinem Leben bestehen wirst.
In ewiger Liebe
Deine Mutter
Sophie
Ich sah auf und faltete den Brief wieder zusammen.
Ich ließ meinen Tränen freien Lauf und schämte mich nicht. Das erste Mal seit Wochen konnte ich endlich wieder aus wahrem Herzen lächeln.
„Es war ein Brief von meiner Mutter und von meinem Vater.“
Ich erwähnte absichtlich nicht den anderen Brief von meiner Mutter, da er mir zu persönlich erschien.
Genau in diesem Augenblick schwor ich mir nie jemanden von dem Inhalt der beiden Briefe zu erzählen. Tief im Inneren wusste ich, dass sie nur für mich bestimmt waren.
Während ich die Briefe gelesen hatte, wurde das Testament verlesen.
Mich interessierte es nicht sonderlich, wer was erhalten hatte. Ich wusste nur, dass meine Zukunft so oder so, nicht hier in der Stadt spielte.
„Können wir nach Hause fahren? Ich bin müde…“ meinte ich und verstummte. Meine Stimme klang anders. Sie gehörte wieder mir, nicht der trauernden June.
„Klar…“ meinte Chace verwundert über meine plötzliche Offenheit.
Als wir zu Hause ankamen, ging ich sofort in mein Zimmer und legte mich ins Bett. Nicht lange und ich lag in tiefem Schlaf.
Am nächsten Morgen öffnete ich die Augen und erwachte in purer Euphorie. Ich wusste nicht was mit mir geschehen war, aber durch den Abschied meiner Eltern in diesen beiden Briefen ging es mir besser. Ich konnte mir nun sicher sein, dass sie mich noch immer liebten. Ich war froh, sie in meinem Herzen zu wissen.
Es klopfte an der Tür und Chace spähte herein. Hinter ihm stand Madame Finn.
„Wie geht es dir?“ fragte mich Chace zögernd.
„Es ist seltsam, aber mir geht es gut. Sehr gut sogar.“ Ich kam mir wie ausgewechselt vor.
Chace lächelte und als ich Madame Finn sah, erblickte ich auch ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Epilog
Ich saß auf einem Umzugskarton. Chace schleppte noch die letzten Kartons nach oben. Die Wohnung war sehr schön.
„Und wie gefällt dir London?“ fragte er mich lächelnd.
„Wie es mir gefällt? Es ist wunderbar!“ Ich war überglücklich.
Das war der Wille meiner Eltern, ein Neubeginn für mich, den ich selber gewählt hatte.
Ich blickte aus dem Fenster. Es war ein ungewöhnlich sonniger Tag in London. Es entsprach genau meiner Stimmung.
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